Meine Flucht aus der DDR (Teil 1)

Eigentlich hatte ich nicht vor die DDR überstürzt zu verlassen, aber ein Vorfall zwang mich sofort zu handeln. Der Anlass war ein attraktives Mädchen, welches mich beim Silvesterball 1958 bei der Damenwahl zum Tanz gebeten hatte. Kaum hatten wir zum Tanzen angefangen, als mir auf die Schulter geklopft wurde. Ich drehte mich um und erkannte den cholerischen FDJ Sekretär, welcher sehr gefürchtet war. Er schrie mich an, wie ich dazu komme mit seiner Verlobten zu tanzen. Bevor ich es ihm erklären konnte, forderte er mich auf nach draußen mitzukommen.

Im Treppenhaus ließ er sofort seine Fäuste sprechen, nachdem mir mit 19 Jahren Angst ein Fremdwort war, blieb ich ihm nichts schuldig. Als ich ihm etwas unsanft mit der Faust den Unterkiefer verschob, taumelte er die Treppe hinunter und brach sich obendrein das linke Handgelenk. Um anscheinend keine Schwierigkeiten mit seiner Krankenkasse zu bekommen gab er bei den Sanitätern an, ich hätte ihn aus parteifeindlicher Gesinnung angegriffen und überdies korruptes Parteischwein genannt. Was er auch war.

Es war Dienstag der 6.1.1959 als ich für den 14.1 eine gerichtliche Vorladung bekam. Nachdem im Nebenhaus ein guter Bekannter meiner Pflegeeltern seine Anwaltskanzlei hatte, suchte ich ihn auf. Als ich ihm den Sachverhalt geschildert hatte, wiegte er lange seinen Kopf. Nach reiflicher Überlegung teilte er mir mit, die Anschuldigungen seien sehr erheblich, wenn ich keine Zeugen für meine Angaben hätte, bestehe keine Aussicht auf Straffreiheit. Damit war der Würfel bei mir gefallen, Devise: jetzt oder nie.

Am Donnerstag den 8.1 ging ich zur Bank und hob 500.-Mark ab und packte Zuhause einen mittelgroßen Koffer mit ein paar Zivilsachen. Um bei Kontrollen in der Bahn keine Probleme zu bekommen, hatte ich beschlossen in der Reichsbahn Uniform zu flüchten, was eine kluge Entscheidung war. Um meine Pflegeeltern nicht in Schwierigkeiten zu bringen, hatte ich sie über die Flucht nicht eingeweiht. Gerade als ich um 19:00 Uhr das Haus verlassen wollte, kam mir im Hausflur meine Pflegetante entgegen. Sie blieb stehen und fragte erstaunt, wo willst du am Abend mit dem Koffer hin. Für diesen Fall hatte ich mir schon eine Notlüge zurechtgelegt und antwortete, muß den Chef übers Wochenende in die Sächsische Schweiz fahren und komme selbst erst Sonntagabend zurück. Damit schuf ich mir genügend Fluchtzeit.

Auf dem Weg zum Bahnhof begegneten mir einige Bekannte und fragten wohin so spät am Abend, muß dienstlich paar Tage weg, antwortete ich. Am Bahnhof angekommen kreuzte der Bahnhofvorsteher meinen Weg. Da ich mal mit seiner hübschen Tochter Cäcile eine kurze Liasion hatte, blieb er stehen und fragte neugierig, na wo geht's hin, nach Leipzig sagte ich.

Nachdem ich als Kraftfahrer überall sehr bekannt war, hatte mir mein sehr vertrauter Kurier geraten, die Flucht am Abend zu beginnen, außerdem sollte ich zwischen 6 und 7 Uhr in Berlin sein. Die Chance nicht erwischt zu werden, wäre diese Zeit wegen dem sehr regen Passanten Ost-Westverkehr am günstigsten.

Außerdem hatte er mir geraten, die Fahrt in die Gegenrichtung zu beginnen und in Etappen nach Berlin zu fahren. Ich fuhr deshalb erst in Richtung Dresden, stieg in Arnsdorf aus und nahm den Zug nach Senftenberg. Von dort bis Cottbus, wo ich nach Königswusterhausen umstieg.

Als zwischen Arnsdorf und Senftenberg der Zug auf offener Strecke hielt, und neben dem Zug Polizei mit Suchlampen vorbei lief, befürchtete ich Schlimmes. Kurz darauf erschienen sie im Abteil. Während die Bahnreisenden sehr genau kontrolliert wurden, genügte bei mir nur ein Blick auf die Uniform und die Beamten nickten mir freundlich zu. Wie ich erfahren konnte, suchte man einen Motorradfahrer, welcher nach einem schweren Unfall geflüchtet war.

Da es eine nächtliche Bahnfahrt war, führten Beamte der Bahnpolizei öfters Kontrollen durch. Wen man mich bisher auf Grund meiner Unform in Ruhe ließ, so wurde auch ich kurz vor Königswusterhausen genau kontrolliert und gefragt, was mein Ziel wäre. Mit diesen Kontrollen wurden schon kurz vor Berlin Republikflüchtige abgefangen. Da ich als Kraftfahrer der Reichsbahn einen Sonderausweis besaß, welcher mich berechtigte die gesamte DDR sowie den Ostsektor Berlin zu befahren, wollten sie den Grund meiner nächtlichen Fahrt in Richtung Berlin wissen. Ich antwortete, muß um 9:00 Uhr in Brandenburg einen Fernlastzug abholen, damit waren sie zufrieden und wünschten mir eine gute Fahrt.

Im Königswusterhauser S-Bahnhof wollte ich meine Reichsbahn Uniform in Zivilkleidung wechseln. Ich ging deshalb zum Herren WC, nachdem diese wegen Umbauarbeiten geschlossen war, sprang ich kurzerhand in das Damen WC. Beim Verlassen der Toilette hätte ich beinahe einen Schock erlitten. Da stand plötzlich ein angsteinjagendes Monster in Form einer Bahnhofswärterin vor mir. Sie brüllte, was fällt ihnen ein, in eine Damen Toilette zu gehen!

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Foto aus 'Straßen der DDR' von Michael Krone, Verlag SCHNEIDER TEXT

Meine Erklärung und Entschuldigung ignorierte sie, der nächste Brüller war, bleiben sie stehen bis ich alles inspiziert habe, womöglich haben sie darin ein Unwesen getrieben. Als ich nur ein paar Schritte zum Bahnschalter gehen wollte, um eine Großraumkarte nach Berlin zu lösen, pfiff sie mit ihrer Trillerpfeife und schrie stehen bleiben habe ich gesagt. Langsam befürchtete ich, dass meine Flucht durch dieses Ungeheuer hier scheitern wird.

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